Als ich Anfang der 90er Jahre das Repetitorium Alpmann Schmidt in Hannover zur Vorbereitung auf das 1. juristische Staatsexamen besuchte, gab es in dem Kurs einen Kommilitonen, der sich nach Problemdarstellungen regelmäßig auf die abschließende Frage des Repetitors "Hat noch jemand eine Idee?" meldete.
Im Laufe der Zeit war es immer wieder "Herr Schilling", der Problemlösungen entwickelte, die höchsrichterlicher Rechtsprechung ähnelten oder dem Ansatz des Bundesgerichtshofs entsprachen. Ich hatte nie den Eindruck, dass sich diese abschließenden Wortmeldungen auf überdurchschnittlichen Fleiß zurückführen liessen. Ich denke, "Herr Schilling" konnte es einfach.
Im Verlauf der Vorbereitungen auf die Prüfung des 1. juristischen Staatsexamens hatte ich die Ehre, als Zuschauer zufällig der mündlichen Prüfung von Roger Schilling in Göttingen beiwohnen zu können. Der Vorsitzende der Prüfungskommission war Professor Dr. Wolfram Henckel, berüchtigt für seine Strenge und "Henckel trocken" genannt. Ein Kommilitone meldete sich in der Mittagspause der mündlichen Prüfung auf dringendes Anraten der Zuschauer vorsorglich als krank ab, ein anderer fiel durch.
Herr Schilling glänzte trotz der überdurchschnittlichen Härte dieser mündlichen Prüfung mit der Examensnote "gut", was bundesweit etwa 2% der Prüflinge gelang. Über 25% aller Studenten fielen durch die Prüfung zum 1. Staatsexamen. Nach dieser Zeit verlor ich Roger Schilling aus den Augen, bis ich gestern den folgenden vom Bundesgerichtshof erstellten Newsletter in meinem Posteingang fand:
"Bundesgerichtshof Mitteilung der Pressestelle Nr. 085/2023 vom 30.05.2023
Richter am Bundesgerichtshof Roger Schilling ist am 26. Mai 2023 im Alter von 61 Jahren verstorben.
Herr Schilling, gebürtig aus Hannover, trat nach Abschluss seiner juristischen Ausbildung im August 1995 in den höheren Justizdienst der Freien Hansestadt Bremen ein. Dort war er zunächst bei der Staatsanwaltschaft Bremen, bei dem Landgericht Bremen sowie bei den Amtsgerichten Bremen-Blumenthal und Bremen tätig, bevor er im Januar 1999 bei dem Amtsgericht Bremen zum Richter am Amtsgericht ernannt wurde. Von dort war er in der Zeit von August 2002 bis Februar 2006 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet. Hieran anschließend gehörte Herr Schilling - zunächst im Abordnungswege - dem Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen an, wo er im Oktober 2006 zum Richter am Oberlandesgericht befördert wurde.
Am 2. März 2009 wurde Herr Schilling zum Richter am Bundesgerichtshof ernannt. Er gehörte zunächst bis Ende Juli 2009 dem im Wesentlichen für das Amtshaftungsrecht, das Recht der öffentlich-rechtlichen Entschädigung sowie für Rechtsstreitigkeiten über Dienstverträge und Geschäftsbesorgungsverhältnisse zuständigen III. Zivilsenat an. Ab August 2009 war er Mitglied des insbesondere für das Familienrecht, für das Vormundschafts- und Betreuungsrecht sowie für das Gewerbliche Mietrecht zuständigen XII. Zivilsenats. Für den XII. Zivilsenat war er zudem seit 2016 stellvertretendes Mitglied im Großen Senat für Zivilsachen.
Die Rechtsprechung namentlich des XII. Zivilsenats hat Herr Schilling während seiner über vierzehnjährigen Zugehörigkeit zum Bundesgerichtshof maßgeblich mitgeprägt. Der Bundesgerichtshof verliert mit ihm einen verdienstvollen Richter und einen liebenswürdigen Kollegen.
Karlsruhe, den 30. Mai 2023"