Montag, 26. September 2022

Stell Dir vor es ist Krieg und keiner geht hin

deserteur

Es ist unklar, ob der 25-jährige russische Staatsbürger Ruslan Alexandrovich Zinin aus der ostsibirischen Stadt Ust-Ilimsk in der Oblast Irkutsk in Russland an den in der Überschrift aus einem Gedicht von Carl Sandburg abgeleiteten Vers gedacht hat, als er auf den Leiter der örtlichen Einberufungsstelle, Militärkommissar Alexander Vladimirovich Eliseev, geschossen hat. Klar dürfte sein, dass Ruslan Alexandrovich Zinin nicht zum Militärdienst eingezogen wird und deshalb nicht in den russischen Krieg gegen die Ukraine ziehen muss, weil er sich vor einem russischen Gericht für sein Handeln strafrechtlich verantworten muss und danach voraussichtlich für lange Zeit in Haft genommen wird.

Zahlreiche andere Russen im wehrfähigen Alter entkommen der Teilmobilmachung auf weniger spektakuläre Weise, in dem sie Russland verlassen. Russischen Kriegsdienstverweigerern drohen schwere Repressionen in ihrem Heimatland und könnten daher über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asyl wegen politischer Verfolgung beantragen, da dieses Recht im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland durch Artikel 16a Absatz 1 Grundgesetz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" gewährleistet wird. Praktisch dürfte allerdings eine Mehrzahl von Asylanträgen scheitern, da sich nach Artikel 16a Absatz 2 GG derjenige nicht auf sein Asylrecht berufen kann, der aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.

Allerdings könnte jeder Russe zunächst Asyl beantragen und das Verfahren dauert aktuell etwa ein Jahr. Während dieses Zeitraums erhält der Asylbewerber Sachleistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts sowie einen monatlichen Geldbetrag. Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) stellt die Grundbedürfnisse sicher und regelt die Versorgung, auf die ein Anspruch besteht: Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, Heizung, Körperpflege und Gesundheitsversorgung, Leistungen für den persönlichen Bedarf, Gebrauchsgüter und Verbrauchsgüter für den Haushalt, Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt und weitere individuelle Leistungen. Wird das Verfahren mit einer Ablehnung als „unzulässig“ oder „offensichtlich unbegründet“ abgeschlossen, hat der Antragsteller eine Woche Zeit, um Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht einzureichen und zusätzlich einen Eilantrag zu stellen. Wird der Eilantrag als begründet angesehen, kann der Antragsteller während des Gerichtsverfahrens in Deutschland bleiben und sich vor einer endgültigen Entscheidung immer noch ins europäische Ausland absetzen.

Montag, 5. September 2022

Olympiade München 1972 - Millionenzahlung nach 50 Jahren

Während der Olympischen Sommerspiele in München nahm ein palästinensisches Kommando des "Schwarzer September" am 5. September 1972 elf israelische Sportler als Geiseln. Zwei Geiseln starben im Olympischen Dorf, die anderen neun Geiseln kamen bei einer Befreiungsaktion der Polizei auf dem Militärflugplatz Fürstenfeldbruck ums Leben. Auch ein Polizist und fünf Geiselnehmer wurden getötet. Die Forderung der Freilassung von 232 in Israel inhaftierten Palästinensern und der RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof sowie eines Mitglieds der Nihon Sekigun scheiterte. Die drei überlebenden Palästinenser wurden noch 1972 im Zuge des Überfalls eines weiteren palästinensischen Kommandos auf die Lufthansa-Maschine „Kiel“ von der Bundesregierung freigelassen und die Forderung dieses Kommandos damit erfüllt.

Am 14. Oktober 1994 erhoben 29 Angehörige der israelischen Geiseln Klage beim Landgericht München I gegen den Freistaat Bayern, die Landeshauptstadt München und die Bundesrepublik Deutschland und verlangten Zahlung in Höhe von mehr als 40 Millionen DM. Zur Begründung der Klage wurden mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen im olympischen Dorf und schwere Fehler bei der misslungenen Geiselbefreiung angeführt. Weil den Hinterbliebenen durch den Tod der Geiseln Unterhalt entgangen sei, sollten der Freistaat Bayern, die Landeshauptstadt München und die Bundesrepublik Deutschland als Verursacher für den Ersatz aufkommen.

Am 25. Oktober 1995 erließ das Landgericht München I zum Aktenzeichen 9 O 19482/94 zunächst ein Teilzwischen- und Teilendurteil, später wurden mit Teilendurteil vom 16. April 1996 die Klagen der ausländischen Kläger für zurückgenommen erklärt, die trotz Aufforderung durch das Gericht keine Prozesskostensicherheit (§ 113 ZPO) gezahlt hatten. Mit Schlussendurteil vom 6. Mai 1996 wies das Landgericht dann auch die weiteren Klagen ab, weil bei Klageerhebung 1994 die dreijährige Verjährungsfrist abgelaufen sei, Amtshaftungsansprüche verwirkt seien und die Voraussetzungen für "Allgemeine Aufopferungsansprüche" nicht vorlägen.

Noch im Jahre 1995 legten 22 Angehörige fristgerecht Berufung beim Oberlandesgericht München ein. Mit Urteil vom 28. Januar 2000 zum Az.: 1 U 5890/95 wies das Oberlandesgericht München die Berufung der Kläger als unbegründet zurück. Das Gericht verneinte Amtshaftungsansprüche der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland mangels verbürgter Gegenseitigkeit mit Israel, ferner gegen die Bundesrepublik Deutschland, den Freistaat Bayern und die Landeshauptstadt München aufgrund der bereits eingetretenen Verjährung. Gegen dieses Urteil legten die Kläger und Berufungskläger Revision beim Bundesgerichtshof in Zivilsachen ein, die anschließend zurückgezogen wurde, so dass das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 28. Januar 2000 zum Az.: 1 U 5890/95 rechtskräftig wurde. Mangels umfassender Dokumentation dieser historischen Vorgänge sind weder das Urteil des Landgerichts München I noch das Urteil des Oberlandesgerichts München im Internet aufzurufen.

Schon 1972 und auch 2002 hatte Deutschland etwa 4,6 Millionen Euro als humanitäre Geste gezahlt und das Nationale Olympische Komitee sowie das Deutsche Roten Kreuz zahlten weitere 500.000,- Euro. Anfang September 2022 hat sich nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP die Bundesrepublik bereit erklärt, weitere 22,5 Millionen Euro von den immer noch geforderten Zahlungen an die Hinterbliebenen der Anschlagsopfer zu zahlen. Das Bundesland Bayern zahlt fünf Millionen Euro und weitere 500.000 Euro zahlt die bayerische Landeshauptstadt München. Mit dieser Zahlung trotz entgegenstehendem Urteil des OLG München hat sich die deutsche Regierung ein harmonisches Umfeld erkauft. Denn die Hinterbliebenen der Opfer hatten eine Einigung nach ihren Vorstellungen zur Voraussetzung einer Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Geiselnahme gemacht und auch der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog wäre ohne die Millionenzahlung wohl nicht zu der geplanten Gedenkfeier gekommen.

Mit der nun vollzogenen Einigung komme die Regierung "ihrer historischen Verpflichtung gegenüber den Opfern und deren Hinterbliebenen nach", erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die Einigung auf die Zahlung von weiteren 28 Millionen Euro schaffe "nach nunmehr 50 Jahren die Voraussetzungen, ein schmerzhaftes Kapitel in der gemeinsamen Geschichte aufzuarbeiten, angemessen zu würdigen und legt die Grundlage für eine neue lebendige Erinnerungskultur." Durch die Teilnahme der Hinterbliebenen der Opfer und hochrangiger Vertreter des israelischen Staates wurde nun kurzfristig eine würdige Kulisse für die Trauerfeier zum Gedenken an das Attentat aus dem Jahre 1972 gesichert, auf welcher deutsche Politiker ihre Demut und Betroffenheit vor aller Welt in angemessenem Rahmen präsentieren können.